Lexikon Reichelsheim (Odenwald)

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  Zent- und Rathaus

Das Gebäude auf dem heutigen Rathausplatz 7 diente als Zenthaus für die damalige Reichelsheimer Zent mit den Ortschaften Reichelsheim, Eberbach, Frohnhofen, Winterkasten, Laudenau unter den Bäumen, Klein-Gumpen, Groß-Gumpen, Bockenrod, Unter-Ostern, Ober-Ostern, Erzbach und Rohrbach sowie als Rathaus für die Gemeinde Reichelsheim. Es steht auf dem Grund des früheren „Klosters am Bergelchen“. Die Grundsteinlegung fand im Frühjahr 1554 im Beisein von Graf Georg II. von Erbach statt. Der Maurermeister, Steinmetz und Zimmermann erhielten zur Erinnerung vom Grafen je einen Erbacher Gulden. Die Arbeiter konnten zwischen einem Groschen und einem Simmer Korn wählen. Die meisten zogen die Frucht dem Geld vor. Das Gebäude wurde 1554 fertig gestellt. Die Kosten hatten die zentangehörigen Gemeinden samt ihr Bewohner zu tragen.

Zenthaus k
Aufnahme im Jahr 2000
Foto: Helmut Fleck

Das Erdgeschoss war einst eine nach drei Seiten offene aus Bruchsteinen gemauerte Markthalle. Im Eckstein des Sockels der Nordwestecke wurde die Jahreszahl 1554 eingehauen. Das Steinmetzzeichen weist auf den Steinmetz Leonhard Gabel hin. An seinen Außenseiten waren eine „Normalelle“, ein Pranger mit Halseisen und das Wappen des Grafenhauses von Erbach-Erbach angebracht. Im Obergeschoss besteht es konstruktiv aus einem vierzonigen Fachwerk. Es ist das älteste Fachwerkrathaus Deutschlands mit der Mannform als Verstrebungsfigur. Neben den Mannfirguren weist es fränkische Fenstererker mit darunter eingebauten genasten Feuerböcken auf. Der Dachstuhl ist als liegender Stuhl ausgebildet mit einem überwölbt gewachsenen Spannbalken als mittlerer Längsunterzug.

Während des 30-jährigen Kriegs wurde das Zent- und Rathaus 1621 von bayerischen Truppen geplündert. 1755 wurden an dem Gebäude größere Reparaturen durchgeführt. Im 18. und 19. Jahrhundert krönte ein Storchennest das Krüppelwalmdach. 1829 erwarb die Gemeinde Reichelsheim das Gebäude von den übrigen Zentgemeinden für 1.400 Gulden.

Im Erdgeschoss befand sich außer der geräumigen Markthalle eine Wachtstube, ein Backofen und eine Feuerspritze. Der Zugang dafür erfolgte vom Marktplatz aus. In der nördlichen Hälfte des Obergeschosses waren ein Gerichtssaal, in der südlichen der Flur und zwei Amtszimmer des Richters untergebracht. Im Dachgeschoss befand sich der Rathausspeicher. Während er anfangs als Getreidespeicher genutzt wurde, fanden sich später andere Lagergegenstände dort oben. Sogar die Feuerwehr hängte mit Hilfe einer Winde ihre Schläuche zum Trocknen durch das Giebelfenster ins Freie.

Weitere Nutzungen des Gebäudes:

Um 1729 wurde an der Westseite ein P(f)lockhaus mit Gefängnis (Bezenkammer, Arrestlokal bestehend aus drei Arrestzellen) angebaut, das sich im Obergeschoss befand. Im Untergeschoss hatte der Stockmeister (Zentmeisters) seine Wohnung.

1760/61 richteten sich französische Soldaten ihr Winterlager ein.

1792-1797 während der kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Deutschland und Frankreich und

1799-1801 war in dem Gerichtssaal verschiedentlich ein Hospital für kaiserlich deutsche Truppen eingerichtet.

1806 im Preußisch-Französischen Krieg war im Gerichtssaal ein französisches Lazarett untergebracht.

1845-1847 wurde in der offenen Markthalle eine Suppenküche für Bedürftige dieser Hungerjahre eingerichtet.

1864 entstand im Obergeschoss im Zusammenhang mit dem Ortsgewerbeverein die Reichelsheimer Handwerkerschule, die dort ab 1880 auch als Zeichenschule fungierte.

Vor 1865 existierte im südlichen Teil unter der damaligen Treppe zum Obergeschoss ein Gefängnis, das später entfernt wurde.

Nach 1865 richtete man im nördlichen Teil der Markthalle einen Schulsaal ein.

1870/71 wurde im Gerichtssaal ein Staats-Reservelazarett mit 25 Betten während des deutsch-französischen Kriegs untergebracht. Die Leitung hatte zunächst Frau Anthes, die Gattin des damaligen Pfarrers. Sie wurde abgelöst durch die Krankenschwester Helene Gieselstein, der späteren Helene Göttmann.

1873-1875 wurde in den Amtszimmern im Obergeschoss die erste Reichelsheimer Kleinkinderschule mit 60 Kindern untergebracht. Betreuerin war Helene Gieselstein.

1878 wird die offene Markthalle endgültig geschlossen und ein zweiter Schulsaal eingerichtet. Der einst mit dem Marktplatz auf gleichem Niveau liegende Fußboden wird aufgefüllt. Im und vor dem Anbau entsteht die Innen- und Außentreppe, da die alte Innentreppe wegen des Schulsaals aufgegeben wurde. Die Wohnung des Stockmeisters wurde zum Spritzenhaus für die Feuerwehr umgebaut.

1909 erhält das Plockhaus an der südlichen Wand einen Anbau mit zwei zusätzlichen Gefängniszellen im Untergeschoss (die später teilweise als Obdachlosenasyl dienten) und einen Lagerraum im Obergeschoss. Eine der drei oberen Gefängniszellen im Plockhaus wurde als Geräteraum und die beiden anderen als Standesamt genutzt. Dort befinden sich bis heute Jugendstilfenster.

Bis 1953 wurde das gesamte Gebäude als Schulhaus genutzt und der Marktplatz diente als Schulhof.

Von 1954 bis 1975 nutzte die Gemeindeverwaltung das historische Gebäude als Rathaus.

1956 wurde das Spritzenhaus im Anbau unter die Turnhalle der Reichenberg-Schule verlegt und eine Heizungsanlage eingebaut.

Von 1976 bis 1999 richtete sich das Heimatmuseum in dem gesamten Gebäude ein, wobei zeitweise zwei Räume von der Reichelsheimer Polizeistation genutzt wurden.

Von 1996 bis 1999 fand eine Renovierung und Sanierung des gesamten Gebäudes unter Freilegung des ehemaligen Hallenbodens statt.

Seit 1999 nutzt der Arbeitskreis des Museums das gesamte Gebäude als Regionalmuseum Reichelsheim Odenwald.

 

 

Literatur:
- Sal- und Lagerbuch von 1750
- Gemeindearchiv Reichelsheim
- Wilhelm Bardonner, 400 Jahre Reichelsheimer Rathaus 1554-1954, Reichelsheim 1954
- Gemeindevorstand der Gemeinde Reichelsheim (Odenwald), 700 Jahre Reichelsheim im Odenwald - Vom Marktflecken zur Großgemeinde, ISBN 3-00-010145-4, 2002, S. 338 ff.
- Wolfgang A. W. Kalberlah, 450 Jahre Zent- und Rathaus in Reichelsheim (Odenwald), Reichelsheim im April 2004



Verantwortlicher Autor:
[Kalberlah, Wolfgang A. W.]