Lexikon Reichelsheim (Odenwald)

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  Sägewerk und Gewehrschaftfabrikation

Ausgangspunkt des Reichelsheimer Sägewerks und der Gewehrschaftfabrikation war im Jahr 1865 die Schreinerei von Philipp Volk IV. (* 05.03.1840 Reichelsheim, † 24.06.1904 Reichelsheim), die er von seinem Vater übernommen hatte. Sie befand sich in der Beerfurther Straße 13 (Gö­bels; mit dem Bau der Konrad-Adenauer-Allee abgerissen). Zwischen 1871 und 1872 verlegte er sie in das von ihm neu erbaute Haus in der Darmstädter Straße 23, das ab 1879 sein Wohnhaus wurde (In seine ehemalige Werkstatt zog ein Schuhmacher ein). Zusätzlich zu seinem Betrieb meldete er eine Holzhandlung an, um Schnittholz zu vertreiben. Er kaufte Nussbäume auf und ließ sie in den Sägemühlen von Reichelsheim und Gumpen zu Blochware (Dielen) verarbeiten, für die er reichlich Abnehmer fand.

Saegewerk 1 k
Das Firmengelände von Nord-Ost
gesehen; unten: Teile der Firma
Freudenberg
Foto: Archiv Wolfgang A. W. Kalberlah

Im Rahmen seines Holzhandels wurde er auf die Herstellung von Gewehrschäften aufmerksam. Er erkannte darin eine Möglichkeit, sein eigenes Betätigungsfeld zu erweitern. Philipp Volk übernahm die Schablonen zum Anfertigen der Gewehrschaftrohlinge und begann in seiner Schreinerei mit der Produktion. Da in Reichelsheim noch keine Elektrizität existierte und er keine eigene Wasser betriebene Sägeeinrichtung besaß, wurden die Rohlinge aus Nussbaumholz mit der Hand ausgeschnitten.

Sohn Valentin (* 19.08.1866 Reichelsheim, † 20.12.1924 Reichelsheim) führte die Arbeit fort, errichtete auch zahlreiche Fachwerkhäuser in Reichelsheim, wozu er einen Zimmerplatz auf der westlichen Seite der Bachgasse hatte. 1912 erbaute er am östlichen Ende des Flutgrabens (beidseitig der heutigen Hochstraße) ein Sägewerk mit zunächst einem Sägegatter und ließ den Betrieb 1915 ins Handelsregister eintragen. Damit war die gesamte Herstellung auf einen Punkt konzentriert und den damaligen modernen Verhältnissen angepasst. Eine Dampfmaschine übertrug ihre Energie mittels Transmissionen auf den Antrieb der Maschinen. Gleichzeitig leitete sie ihren Dampf in eine Dämpfkammer, in der die fertigen Rohlinge dieser feuchten Luft zur Nachbehandlung ausgesetzt wurden. Anschließend schichtete man sie zum Austrocknen in den nachträglich errichteten Lagerhallen auf, bevor sie an weiterverarbeitende Betriebe gingen. Später gelang es, angrenzende Grundstücke aufzukaufen, um das Firmengelände zu erweitern. Insbesondere auf dem benachbarten Gelände der Lindenfelser Steinschleiferei Kreuzer und Böhringer standen ungenutzte Fabrikationshallen, die 1940 sogleich in die Fertigung einbezogen werden konnten.

Saegewerk 2 k
Blick von der Ecke Flutgraben, Hochstraße
mit dem Schornstein der Dampfmaschine
Foto: Archiv Wolfgang A. W. Kalberlah

Valentin Volks Sohn Philipp Volk II. (* 30.11.1894 Reichelsheim,  † 15.10.1968 Reichelsheim) übernahm dann die Firma (ab 1944 mit Tochter Elisabeth als Kommanditistin). Ihm folgte sein Schwiegersohn Werner Theys (* 25.10.1918 Aalen, † 25.12.2010 Reichelsheim). 1963 entstand auf dem Firmengelände ein neues Kesselhaus mit neuer Dampfmaschine. Sie erzeugte Strom für die elektrobetriebenen Sägegatter und den Dampf für die ebenfalls neu eingerichtete, wesentlich größere Dämpfkammer. Eines der Sägegatter wurde 1975 durch eine moderne Blockbandsäge ersetzt.

Für die Anlieferung der oftmals riesigen Nussbaumstämme dienten eigene und fremde Pferdefuhrwerke. Parallel dazu war die Reinheim-Reichelsheimer Eisenbahn im Einsatz; eines ihrer Gleise auf dem Reichelsheimer Bahnhofsgelände grenzte direkt an das Gelände der Gewehrschaftfabrik an. Ankommende Stämme wurden von den Flachbordwaggons entladen und geschnittenes Holz zum Abtransport aufgeladen. Ab ungefähr 1963, nach der Stilllegung der Bahn, lieferten Lastwagen das Holz an. Der Odenwald und seine Randgebiete stellten anfangs bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein den Hauptlieferanten für die Nussbäume dar. Ihre Zahl ging jedoch mehr und mehr zurück, was Philipp Volk und Werner Theys veranlasste, zunächst in Süddeutschland und dann in Frankreich (an der Isère und in Südfrankreich) Stämme aufzukaufen. Man war auf Nussbaumholz für die Herstellung der Gewehrschäfte angewiesen. Es ließ sich am feinsten bearbeiten und wies von allen Holzarten die schönste Struktur auf. Sport-, Jagd- und Militärwaffenhersteller waren die Abnehmer, die anfangs über die Eisenbahn und später mittels Lastwagen beliefert wurden.

Natürlich lieferte das Sägewerk nicht nur das Schnittholz für die Schafthölzer. Es wurden auch alle Laubhölzer wie Buche, Eiche, Birn- und Kirschbaum für die Möbelindustrie eingeschnitten, Hölzer, die zum Teil aus Übersee bezogen wurden. Der Betrieb wurde 1988 verpachtet und seit diesem Zeitpunkt keine Gewehrschaftrohlinge mehr hergestellt. Der Pächter hatte sich lediglich auf Schnittholz konzentriert und auch diese Tätigkeit dann eingestellt. Die wesentlichsten Bauten der Firma östlich und westlich der Hochstraße, inklusive eines kleinen Wohnhauses für Arbeiter, wurden im Juli und August 2001 wurden restlos abgerissen.

 

Verantwortlicher Autor:
[Kalberlah, Wolfgang A. W.]