Lexikon Reichelsheim (Odenwald)

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  Reichsarbeitsdienstlager (RAD-Lager)

Unter dem Begriff „Melioration" leiteten bereits im 19. Jahrhundert mehrere europäische Staaten generell Maßnahmen zur Bodenverbesserung in die Wege. Speziell wurden Restrukturierungen der ländlichen Räume in Angriff genommen, worunter zum Beispiel Arbeitseinsätze zur Bewässerung, zu Trockenlegungen, zu Gewässerkorrekturen, zur Sicherung von Siedlungen sowie zur Gewinnung und Verbesserung von Kulturland zu verstehen waren. Das nationalsozialistische Deutsche Reich griff unter dem Betreff „Meliorationsprogramm" zunächst freiwillige Arbeitseinsätze auf, deren Träger unter anderem Vereinigungen und Stiftungen waren. Mit dem Gesetz für den Reichsarbeitsdienst vom 26. Juni 1935 wurde das Programm Teil der Erziehung, wozu zunächst junge Männer vor ihrem Wehrdienst für sechs Monate einberufen und paramilitärisch ausgebildet wurden. Die Freiwilligen und später die Einberufenen wohnten in Barackenlagern, so genannten Reichsarbeitsdienstlagern.

Der NSDAP-Bürgermeister von Reichelsheim beantragte am 1. Juni 1933 nach vorhergehenden Vorarbeiten beim Verein zur Förderung des freiwilligen Arbeitsdienstes die Errichtung eines Arbeitsdienstlagers auf einer Fläche von 7000 m².  Begründet wurde der Antrag mit voraussichtlich 450.000 Tagewerken Arbeitsdienstleistungen zur Entwässerung von Wiesen und offenen Gräben, zur Verbesserung des Zustands von Feldwegen, für den Bau neuer Feldwege, für den Bau einer Straße von Reichelsheim über Eberbach nach Nonrod, für den Bau eines Gemeindesportplatzes und zur Herstellung der Trasse für den künftigen Bahnbau von Reichelsheim über Lindenfels nach Fürth. Am 15. Januar 1934 wurde die vorläufige Bauerlaubnis zum Errichten von fünf Lagerbaracken und zwei Lagerschuppen erteilt. Sie entstanden am Fuß des Reichenbergs an der Beerfurther Straße, dort wo bis Ende des 19. Jahrhunderts die Zentscheune mit dem gräflichen Schafbau stand. Der Eingang befand sich ungefähr gegenüber von Haus Nr. 35. Die Einweihung fand wenige Wochen später im Frühjahr 1934 statt. Drei Jahre später kamen noch eine Führungsbaracke und ein Wirtschaftsgebäude hinzu. Über 200 freiwillige Arbeitsdienstmänner, ihre Ausbilder und die Lagerleitung fanden Unterkünfte. Es war ein Ausbildungs- und Arbeitslager zunächst für den freiwilligen und ab 1936 für den Pflicht-Arbeitsdienst, der mehrere Monate bis zu einem Jahr umfasste. 1937 lautete die Anschrift des Lagers: R. A. D. - Abteilung 7/255, Erwin von Steinbach, Reichelsheim i. O.

 RAD-Lager
Blick auf die Baracken
mit Schloss Reichenberg darüber

Foto: Archiv RRO

Ab 1940 entstand aus dem Lager ein Wehr­ertüch­­ti­gungs­lager. Die Ausbildung dauerte zunächst drei Monate und im Verlauf des Krieges nur noch ein paar Wochen. Unter­offiziere und Feld­webel der Wehrmacht standen dort für die Ausbildung der künftigen Soldaten des Zweiten Weltkriegs zur Verfügung.

Im Rahmen der Auflösung des RAD-Lagers erwarb die Bevölkerung den verwertbaren Hausrat. So wurden zum Beispiel aus den blau-weiß-karierten Bettbezügen Dirndlkleider und aus dem roten Stoff der Hakenkreuzfahnen die dazu passenden Schürzen genäht.

Ab 1945 fanden im Lager Ausgebombte aus den Städten und ab 1946 Heimatvertriebene aus dem Sudetenland vorübergehend Unterkunft. In einem Schreiben des Kreisbauamts vom 18. Oktober 1960 wurden die Wohnbaracken als stark baufällig erklärt und das Wohnen darin war „mit Lebensgefahr" verbunden. Erst 1961 verließen die letzten Familien die Baracken.

Bereits von 1951 bis 1953 wurde auf dem ehemaligen Sport- und Exerzierplatz des Lagers sowie auf dem Gelände der unteren Baracken die Reichenberg-Schule erbaut, ergänzt durch eine Turnhalle im Jahr 1955. Später entstanden dahinter die Feuerwehrgebäude. Die letzten Reste des Lagers verschwanden 1980 beim Bau des Übungsplatzes mit Vereinsheim der Faustballer des KSV Reichelsheim.

 

Literatur:
GAR XXIV/5 K 10 F 1-11

 

Verantwortlicher Autor:
[Lode, Gerd]