Lexikon Reichelsheim (Odenwald)

  • Titel_21
  • Titel_22
  • Titel_23
  • Titel_24
  • Titel_25
  • Titel_26

  Göbels, Heidelberger Straße 28

In der Familie wurde überliefert, dass Johann Georg Wendel (* 19.04.1809 Beerfelden, † 23.03.1889 Reichelsheim) aufgrund des verheerenden Brandes in Beerfelden von 1810 und fehlender beruflicher Aussichten wieder nach Reichelsheim kam. Er heiratete hier eine Frau mit Nachnamen Göbel. Diese Heirat verlieh der Familie den Namen "Göbelschuster" in der Reichelsheimer Bevölkerung und dieser Name bis in die 60er- und 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts den nachfolgenden Generationen anhaftete und nicht wie oft das Haus bezeichnete, sondern in diesem Falle die Familie begleitete.

Erste Wohn- und Wirkungsstätte soll laut mündlicher Überlieferung in der Familie das letzte Haus vor dem See in der heutigen Beerfurther Straße gewesen sein (zuvor Schreinerei im Haus Nr. 13).  Dieses Haus wurde mit dem Bau der Konrad-Adenauer-Allee beseitigt. In diesem Haus wohnte bereits der Schuhmachermeister Helm, aus Grasellenbach kommend.

Dieser Wohnsitz ist außerdem durch die Anekdote „Vom Tod des Spielfränzchens“ (s. Literatur unten) dokumentiert: Im Jahre 1849 sah der Schuhmacher Wendel, aus dem Fenster seiner Werkstatt blickend, eine Hand aus dem See ragen. Er lief hin und zog ein Kind aus dem Wasser. Es war bereits tot. Und hier ergänzt die Familienüberlieferung: Das Kind war ungewaschen zum Schulunterricht gekommen und wurde vom Lehrer nach Hause geschickt. Vermutlich um Unannehmlichkeiten im Elternhaus zu vermeiden, lief es zum See, um sich zu waschen. Die Folgen sind im Buch beschrieben.

Sein ältestes Kind, Anna Maria (* 01.01.1836), heiratete den Schuhmacher Johann Adam Wohlleib (* 02.02.1831 Reichelsheim) . Dieser hatte sich auf das Herstellen von Schuhleisten spezialisiert. Die Familie zog in das Haus „Schuhtreische“ in der Bismarckstraße 27.

Sein ältester Sohn, Ludwig (* 12.10.1838 Reichelsheim, † 1906), ebenfalls Schuhmacher, heiratete am 5. Januar 1869 Katharina Jost * 17.05.1840 Reichelsheim, † 04.06.1874 Reichelsheim). Mit „Ehe-Kauf- und Leibgedings-Vertrag“ vom 21. März 1869 erwarb nun dieser von seinen Schwiegereltern in der Mühlgasse 12 ein kleines Anwesen. Die Eltern und sein noch lediger Bruder Jakob II. (* 17.04.1844, † 09.02.1927), ebenfalls Schuhmacher, zogen mit ein.

Goebels 1 k

Sitzend Jakob II. Wendel und Ehefrau Eva Katharina;
hinten v. l. n. r. die Söhne Ludwig, Peter, Jakob und Heinrich
sowie die Töchter Gretchen, Eva und Elisabeth;
Aufnahme: 1907
Foto: Archiv Horst Wendel

Mit der Heirat von Jakob II., erwarb dieser mit Kaufbrief von 1873 von Moses Meyer an der im Jahre 1842 fertig gestellten, neu erbauten Straße, der heutigen Heidelberger Straße, ein Anwesen (Heidelberger Straße 28). Jakob II. hatte mit seiner Ehefrau Eva Katharina, geb. Röth (* 1848, † 1942), aus Grasellenbach eine zupackende Partnerin gefunden. Nicht nur, dass er 1873 das Anwesen und etlichen Grundbesitz erwerben konnte, sie erwarb mit Urkunde vom 30. April 1880 die Erlaubnis, als Hebamme tätig zu werden. Am 7. Mai 1880 wird sie, 32 Jahre alt, vom Kreisrat Jost in Erbach als Hebamme verpflichtet (s. Literatur unten). Sie blieb bis zum 3. Juli 1917 bei dieser Tätigkeit. Außerdem stellte sie Kränze für Hochzeiten, Beerdigungen und zu weiteren Gelegenheiten her, die damals noch zum Brauch gehörten und verkaufte sie. „Kränzstubb’“ wurde bis zum Umbau in 1972 ein Zimmer im zweiten Stock des Wohn- und Geschäftshauses genannt. Wie auch die Untersuchung befindet, konnte Eva Katharina damit einen erheblichen Anteil am Familieneinkommen bestreiten.

Die Eheleute betrieben ihre Landwirtschaft nebenher weiter, jetzt allerdings auf eigener Scholle, die sie durch den Ankauf etlicher Wiesen und Felder erworben hatten. 1904 konnte das Wohnhaus umgebaut werden. Dieser Umbau war so aufwändig, dass in einem Gesuch an das Großherzogliche Ministerium des Innern erwähnt wird, dass dieser Umbau eher ein Neubau gewesen sei. Dabei wurde auch ein Ladengeschäft mit zwei Schaufenstern eingebaut. Weil im unteren Bereich Platz für Stall und Keller benötigt wurde, hat man die Schuhmacher-Werkstatt mit der Wohnung einen Stock höher vereinigt. Es wurden wieder Lehrlinge ausgebildet und Gesellen beschäftigt.

Die vier Söhne von Jakob II. erlernten ebenfalls das Schuhmacher-Handwerk. Das Familienbild aus dem Jahre 1907 ist anlässlich der Übergabe von Haus und Geschäft an den Sohn Ludwig (* 1877, † 1974) entstanden.

Der Sohn Jakob wurde als Orthopädie-Schuhmacher in Heidelberg ansässig und arbeitete sehr eng mit den Orthopädischen Kliniken in Heidelberg zusammen (Der Betrieb besteht auch heute noch).

Ludwig hatte zwei Söhne namens Heinrich und Ludwig, die beide das Schuhmacher-Handwerk erlernten. Der älteste Sohn, Heinrich (* 1910, † 2005), sollte das elterliche Geschäft übernehmen. In der Zeit des Nationalsozialismus konnten jedoch solche Familienplanungen durch die politischen Umstände zunichte gemacht werden. Heinrich wurde, nachdem er 1938 seine Meisterprüfung abgelegt hatte, 1940 zum Militär eingezogen und kam erst 1948 aus russischer Gefangenschaft zurück.

Da das Geschäft verwaist war, übernahm der zweite Sohn, Ludwig (* 1917), das Geschäft und führte es bis 1979. In dieser Zeit wurden größere Schaufenster eingebaut und die Schuhmacher-Werkstatt, nachdem die Landwirtschaft nicht mehr betrieben wurde, in die untere Geschäftsebene verlegt.

Goebels 2 k
Heidelberger Straße 28
mit dem Geschäft
„Trachtenwendel“
Foto: Horst Wendel, 1991

Im Jahre 1979 führte der Sohn Horst (* 1943) das Geschäft weiter. Er hatte den Beruf des Orthopädie-Schuhmachers erlernt, war dann in der Schuhindustrie als Volontär, danach als Zuschneidmeister und Ledereinkäufer im In- und Ausland tätig. Der Niedergang des Schuhfachhandels, durch Konzentration und Verlagerungen der Produktion in Billig-Lohnländer war nicht mehr aufzuhalten. 1979 starb seine Ehefrau und ab 1980, mit neuer Ehefrau, Gisela, geb. Anthes, änderte er im Jahre 1980 das Verkaufsangebot des Geschäfts. Als „Trachtenwendel“ wurde es zu einem der führenden Trachten-Fachgeschäfte in Deutschland. Es wurde 2005 geschlossen.

 

 

 Literatur:
- Vom Tod des Spiefränzchens; Hieronymus, Ernst; Das Reichelsheimer Sagen- und Geschichtenbuch; 2. Aufl. 1998; S. 81; GAR; RRO
- Hebammen in der Zent Reichelsheim; Hieronymus, Ernst; „gelurt“, Odenwälder Jahrbuch für Kultur und Geschichte 2001; ISBN 3-9804066-6-0; S. 51 ff.; GAR; RRO
- Wolf, Heiner; Familienbuch Reichelsheim 1643-1875; Band 2; GENDI-Verlag Otzberg; 2018; ISBN 978-3-946295-61-7; GAR

 

Verantwortlicher Autor:
[Wendel, Horst]