Lexikon Reichelsheim (Odenwald)

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  Ehemaliges Gasthaus „Zur Goldenen Krone“

Eine Herberge besonderer Art befand sich bis 1991 in der Bismarckstraße 6 und bildete ein Stück Reichelsheimer Geschichte. Fachwerk und Odenwälder Schindel bestimmen das Haus an der Mergbachbrücke. Einst wies ein Schild mit einer verzierten Krone und einer Brezel auf das Gasthaus „Zur Goldenen Krone“ hin. Im Gerichtsbuch des Amtes Reichenberg ist um 1712 der Bäcker und Müller Michael Schöner (* 11.08.1681 Reichelsheim) als Besitzer der „Crone“ genannt; später wurde er Besitzer der Herrnmühle. Durch diesen Besitzwechsel und seine Heirat mit Anna Margaretha Blumenschein (* 04.02.1680 Reichelsheim) ging das Anwesen an die Familie Blumenschein über und noch im 18. Jahrhundert befand es sich nachweisbar im Besitz der Familie Kling, die als Bäcker und Wirt genannt sind. Damals wird es in den Büchern der Gemeinde Reichelsheim als Wohnhaus mit Anbau, Backofen, Scheuer, Ställen und Brennhaus genannt und hatte eine jährliche Abgabe von 4 1/2 Hühnern und 2 1/2 Hähnen zu leisten. 1869 herrschte in vielen Teilen des Odenwaldes großes Hochwasser. So auch in Reichelsheim. Der Mergbach in unmittelbarer Nähe der „Krone“ überflutete das Haus und weichte das Erdgeschoss auf. Der Besitzer Heinrich Kling (* 11.11.1844 Reichelsheim, † 25.01.1879  Reichelsheim) musste das Gebäude um 1870 durch einen Neubau ersetzen. Nur die Balken der oberen Geschosse konnten verwendet werden. Im ersten Stock wurde ein Tanzsaal eingebaut. Die erste Mieterin im neuen Haus war die Diakonisse Helene Gieselstein, verh. Göttmann, die nach dem Krieg 1870/71 nach Reichelsheim gekommen war.

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Das Gasthaus „Zur Goldenen Krone“
(links) um 1960. Damals erreichte man
 noch über Treppen die Hauseingänge.
Foto: RRO-FAR-1-02-051 RE

Heinrich Klings Tochter Katha­ri­na (* 20.­08.­1867 Rei­chels­heim, † 09.­08.­1936 Rei­­chels­­heim) hei­ratete 1891 den Bäckermeister Johannes Gärtner (* 12.­12.­1866 Lin­den­fels, † 04.07.1945 Reichelsheim) , der die Wirtschaft übernahm und später an seinen Sohn Peter Gärtner und dessen Frau Katharina weiter gab. Der frühere Tanzsaal, in dem sich Dorfjugend und Bürger einst trafen, wurde 1908 umgebaut, weil sich Tanzveranstaltungen aus der Sicht des Wirts nicht mehr lohnten.

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Ausschnitt aus dem Fremdenbuch

Nach dem Umbau war die „Goldene Krone“ von 1909 bis 1938 zugleich Her­ber­ge. Ihren Ur­sprung fand diese Einrichtung in der Verpflichtung der Gemeinden, für Durchreisende eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Waren dies anfangs die Arrestzellen im Gefängnis des Zent- und Rathauses, wurden bald bessere Lokalitäten gesucht. Ob Zufall oder nicht, in den umliegenden Orten waren es meist die Gasthäuser mit dem Namen „Krone“. Warum dann nicht auch in Reichelsheim? Von diesen so genannten Schüler- und Studentenherbergen im Odenwald kündet für Reichelsheim noch das Fremdenbuch. In ihm ist jede Übernachtung (mehr als zwei hintereinander waren gesetzlich nicht zulässig) genau vermerkt. Den verschiedensten Handwerksleuten auf der Walz bot die „Krone“ ebenso Unterkunft wie Händlern, Kaufleuten, Brauern, Tagelöhnern, Melkern, Metzgern, Orgelspielern, Musikern, Klavierarbeitern, Instrumentenmachern, Pferdepflegern, Kraftfahrern, Fuhrmännern, Hausierern, Artisten, Gauklern, Feuerschluckern, Hausdienern, Zigarrenmachern, Glasmachern, Gerber, Büchsenmachern, Schirmmachern, Porzellandrehern, Pinselmachern, Hafnern, Seeleuten, Schiffern und Käsern. Waren es teilweise Menschen aus der „näheren“ Umgebung (Handwerksburschen durften nicht näher als 50 Kilometer an ihr Heimatdorf heran), so kamen die meisten doch aus der Ferne, um in der Regel am nächsten Tag wieder weiter zu ziehen. Im Jahr 1912 trugen sich sogar zwei Chinesen ein und im Juli des Jahres zuvor waren ein Österreicher und drei Italiener in Reichelsheim.

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Bericht über einen Brand
in der „Goldenen Krone“;
„Der Odenwälder“ Nr. 64 vom 09.08.1850

Bis in die 1920er-Jahre hatte in der warmen Jahreszeit das angegliederte Gartenlokal seine Pforten geöffnet. Das Anwesen war in den Jahren 1921/22 auch Milchsammelstelle für die Bauern. Von dort aus wurde die Milch am nächsten Tag zum Odenwälder Lieschen gebracht, das sie zur Starkenburger Milchzentrale in Darmstadt weiter beförderte. Da die Besitzer der „Krone“ auch alle Bäcker waren, war dort bis 1940 zeitweise eine Bäckerei untergebracht. Es dürfte sich um eine Lebkuchen- und Anisbäckerei gehandelt haben. Einen Laden gab es nicht. Die Backwaren wurden ausgetragen. Ebenfalls bis 1940 belebte eine Kegelbahn die Wirtschaft.

Nach dem Tod seiner Eltern Peter und Katharina übernahmen 1969 Heinz Gärtner und seine Frau Anneliese das Gasthaus. Viele Reichelsheimer Vereine haben bis zur Schließung am 30. September 1991 nach den Vereinsabenden ihr Bier oder ihren Schoppen Wein in der Wirtschaft getrunken. Der 1980 gegründete Skatclub spielte wöchentlich, der Gesangverein kehrte ein, die Turner und die Koronargruppe des KSV kamen häufig vorbei. Aus gesundheitlichen Gründen konnte das Ehepaar Gärtner, das ohne Nachkommen blieb, die Gaststätte nicht weiter betreiben.

1996 etablierte sich in der zweiten Gaststube des Hauses die Stickstube von Inge Friedrich, die im darauffolgenden Jahr in das gegenüberliegende freie Ladengeschäft der Bismarckstraße 5 umzog.

 

 

 

Literatur:
- Grundbuch der Gemeinde Reichelsheim, GAR XXI K 41-43
- Flurbuch Reichelsheim, GAR XXI K 40
- Brandkataster über die Gebäude der Gemeinde Reichelsheim
- Gerichtsbuch des Amtes Reichenberg, GAR
- Wolf, Heiner; Familienbuch Reichelsheim 1643-1875, Band 2, GENDI-Verlag Otzberg, 2018, ISBN 978-3-946295-61-7; GAR
- „Darmstädter Echo“ vom 4. Oktober 1991, S. 36

 

 

Verantwortlicher Autor:
[Kalberlah, Wolfgang A. W.]