Lexikon Reichelsheim (Odenwald)

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  Gewerbeverein Reichelsheim

Gewerbefreiheit

Der Zunftzwang und damit die wirtschaftliche Macht der Zünfte wurden nach der Französischen Revolution in den von Napoleon dominierten Gebieten auch im deutschsprachigen Raum stark eingeschränkt oder ganz aufgehoben. Die Gewerbefreiheit ist die zentrale Forderung des klassischen Liberalismus gegenüber den Restriktionen des Zunftwesens und der Ständegesellschaft. Sie wurde 1810 als Hauptbestandteil der Stein-Hardenbergschen Reformen in Preußen eingeführt. Nachdem sie nach den Befreiungskriegen stellenweise wiederhergestellt worden war, riss die Diskussion um die Gewerbefreiheit nicht mehr ab und führte nach und nach zur Auflösung der Zünfte.

Das Freizügigkeitsgesetz vom 1. November 1867 sicherte allen Angehörigen des Norddeutschen Bundes die Niederlassungsfreiheit mit dem Recht auf Grunderwerb und wirtschaftliche Betätigung im gesamten Gebiet des Bundes zu. Die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund vom 1. Oktober 1869 führte schließlich die volle Gewerbe- und Wettbewerbsfreiheit ein, wurde zum 1. Januar 1871 auch für die Südprovinzen des Großherzogtums Hessen übernommen und war spätestens 1873 im Deutschen Reich überall eingeführt gewesen.

Landesgewerbeverein

Um Handel und Gewerbe zu fördern, war bereits 1821 in Kurhessen ein Gewerbeverein gegründet worden. Im Großherzogtum genehmigte Großherzog Ludwig II. am 12. August 1836 den „Gewerbeverein für das Großherzogtum Hessen“. In ihm fanden sich Handwerker, Gewerbetreibende und am wirtschaftlichen Fortkommen des Landes interessierte Bürger zusammen. Seine Gründung entsprang privaten Interessen und verstand sich als Selbsthilfeorganisation der Wirtschaft zur Gewerbeförderung und Gewerbeaufsicht. Er stand außerdem als oberste Behörde dem gesamten gewerblichen Schulwesen vor, denn die Mitglieder des Gewerbevereins sahen ihre Aufgabe auch in der Verwirklichung einer bedarfsgerechten Ausbildung und Qualifizierung zukünftiger Gewerbetreibender. Zur stärkeren Berücksichtigung örtlicher Interessen und vor allem zur Betreibung von Gewerbeschulen (Handwerkerschulen) erlaubte die Regierung 1840 die Gründung von Lokalsektionen des Gewerbevereins. Zur Hervorhebung seiner staatlichen Kompetenz wurde der Verein im Jahr 1867 in „Großherzogliche Zentralstelle für Gewerbe und Landesgewerbeverein“ umbenannt. 

Handwerkerschule

Die Gemeindeverwaltung Reichelsheim gründete 1864 in Verbindung mit der Spar- und Leihkasse in Erbach und der Großherzoglichen Zentralstelle für die Gewerbevereine und dem Landesgewerbeverein in Darmstadt eine Handwerkerschule in Reichels­heim. Solche Handwerkerschulen waren die Vorgänger der heutigen Berufsschulen unter Aufsicht der örtlichen Gewerbevereinen. Da die expandierende Industrie damals allgemein nach Musterzeichnern suchte, gehörte auch das Fach Zeichnen zum Lehrplan. Der Vorstand der Reichelsheimer Schule setzte sich wie folgt zusammen: Pfarrer Fuchs, Lehrer Treusch, Beigeordneter Dingeldein, Kilian Hering, Philipp Heist, Johannes Dingeldein, Friedrich Volk und Carl Werner. Diese damalige „Sonntagsschule“ war im oberen Geschoss des damaligen Rathauses untergebracht und wurde von Lehrer Treusch geleitet. Der Unterricht fand sonntags von 8 bis 12 Uhr statt. Da die teilnehmenden Schüler dadurch nicht in die Kirche gehen konnten, kam jeden Sonntag ein Pfarrer in die Zeichenschule und hielt dort eine kurze Andacht. Von 1880 bis 1886 hat Lehrer Schuchmann die Handwerkerschule geleitet. Damals fand der Übergang der allgemeinbildenden Handwerkerschule in eine bis 1927 bestehende Zeichenschule statt.

Im Jahre 1886 übernahm Georg Wilhelm Heil aus Fränkisch-Crumbach die Leitung der Zeichenschule. Während ihres Bestehens waren folgende Lehrer tätig:

1886 bis 1909: Georg Heil aus Fränkisch-Crumbach
1906 bis 1923: Georg Frölich, Zimmermeister aus Reichelsheim
1909 bis 1915 und 1920 bis 1925: Philipp Trautmann, Schreinermeister aus Reichelsheim
1915 bis 1920: Eduard Heil aus Fränkisch-Crumbach
1923 bis 1927: Johannes Dingeldein, Gewerbelehrer aus Reichelsheim

Gewerbeverein 2 k

Nachricht vom 07.04.1908
Herkunft: Gewerbeverein Reichelsheim

Der erste Zeichensaal war in der Hausmeisterwohnung des Rathauses eingerichtet, dann in der alten Bürger- bzw. Landwirtschaftsschule in der Heidelberger Straße 9. Später zog man in den Saal des Gasthauses „Zur Eisenbahn" um. Zuletzt, bis zum Jahre 1927, war die Zeichenschule im Saal des Friedrich Volk auf dem Marktplatz (Gasthaus „Zum Grünen Baum“) untergebracht.

Der Reichelsheimer Gewerbeverein unternahm zur damaligen Zeit mit den Zeichenschülern und Lehrern auch Ausflüge nach Heidelberg, Darmstadt und Mannheim. Ebenfalls zu dieser Zeit hatten die Vorstands­mitglieder des Gewerbevereins mit ansässigen Handwerksmeistern die Gesellenprüfung abgenommen, bis diese Aufgabe nach dem Ersten Weltkrieg von den Innungen und Handwerkskammern wahrge­nommen wurde. Durch diese Wandlung und durch die Einführung der Berufsschulen verlor der Gewerbeverein Reichels­heim ein Hauptaufgabengebiet, sodass die aktive Arbeit merklich nachließ und bald ganz einschlief.

Gewerbeverein ab 1955

Gewerbeverein 1

Trotz der Wirrnisse des Zweiten Weltkriegs und der Schwierigkeiten haben sich 15 Geschäftsleute aus Reichelsheim entschlossen, das Gewerbe und den Handel in ihrer Gemeinde durch die Wiedergründung eines Gewerbevereins zusammenzuführen. Am 11. Dezember 1954 fanden sie sich in der Volksschule zusammen, um darüber zu beraten. Nach einer regen Aus­sprache über die Ziele dieses Zusammenschlusses waren sich die Anwesenden einig, möglichst bald einen Gewerbeverein ins Leben zu rufen. Es wurden daraufhin die unterzeichnenden Herren be­auftragt, die erforderlichen Vorbereitungen zu treffen. So setzte man sich zunächst folgende Ziele:

1. Die Belange des ortsansässigen Gewerbes und Handels, wo es möglich ist, zu unterstützen und zu fördern.
2. Laufende Werbung für den „Kauf am Platze“ und Arbeitsausführung durch die ansässigen Gewerbetreibenden.
3. Ausgestaltung der Gewerbeschau auf dem Michelsmarkt.
4. Anträge jeglicher Art an die Gemeindeverwaltung, zum Beispiel Senkung der Gemeindesteuer.
5. Alle sonstigen Belange, die den Handel und das Gewerbe interessieren.

Diese erste Zielsetzung von Friedrich Klingler, Erwin Gorol, Heinrich Weimar, Konrad Spalt, Ludwig Wendel und Friedrich Dingeldein wurde zum Anlass genommen, zur stattfindenden Gründungsversammlung am 27. Februar 1955 um 14 Uhr in das Gasthaus „Zum Schwanen“ einzuladen.

Die Wahl des Vorstandes des wieder gegründeten Gewerbevereins sah wie folgt aus:

- Erster Vorsitzender: Friedrich Dingeldein II. („Schwimmbad-Fritz")
- Zweiter Vorsitzender: Ludwig Wendel
- Schriftführer: Rudolf Lein
- Rechner: Georg Lortz
- Beisitzer: Valentin Born, Heinrich Weimar und Georg Bickelhaupt

 Weitere Vorsitzende mit Schwerpunkten des Vereins:

1965 Rudolf Lein; 1969 und 1970 wurden die ersten Weihnachtsverlosungen durchgeführt und 1971 die erste Vereinssatzung einstimmig genehmigt. Die Gewerbetreibenden der Ortsteile Unter-Ostern und Laudenau wurden auf eigenen Wunsch in den Gewerbeverein Reichelsheim aufgenommen.

1976 Siegfried Treusch; in seine erste Amtszeit fiel die Grün­dung der „Reichelsheimer Nachrichten“.

1981 Fritz Hörr; unter seiner Regie wurde die Vereinssatzung aktualisiert.

1983 Siegfried Treusch; er begründete mit seinen Vorstandskollegen den Reichelsheimer Weihnachtsmarkt.

1987 Rudolf Erdbrink; es erfolgte der Umzug der Gewerbeschau von der Reichenberg-Schule in die neu erbaute Reichenberghalle.

1995 Martina Arras; als erste Frau an der Spitze des Gewerbevereins gestaltete sie erfolgreich die verkaufsoffenen Sonntage an den Märchen- und Sagentagen und intensivierte die Zusammenarbeit der Gewerbe- und Wirtschaftsvereine im oberen Gersprenztal.

2002 Kai-Uwe Weimar

Seit 24.02.2003 Dieter Färber; er führte im selben Jahr die Reichelsheimer Nachtschwärmerei am Samstag vor Muttertag mit verkaufsoffenen Geschäften und einem bunten Begleitprogramm ein.

Nachdem beim Michelsmarkt die Aussteller- und Besucherzahlen rückläufig waren, erarbeitete der Gewerbeverein im Jahr 2005 gemeinsam mit den Vereinen und der Michelsmarktkommission ein neues Konzept für die Gewerbeschau und die Informationsausstellung der Vereine, ganz nach der Devise „Mischen possible“. Daraus entstand das Motto: „MiMaMix - Bunte Schau von Gewerbe, Vereinen und Institutionen“.

Heute umfasst der Gewerbeverein Mitglieder aus den Bereichen Handel, Handwerk, Dienstleistungen und Industrie. Er engagiert sich auch im Bereich der Wirtschaftsförderung und der Infrastrukturverbesserungen in Reichelsheim und dem oberen Gersprenztal.

Informationen und Ansprechpartner sind unter www.gewerbeverein-reichelsheim.de externSW zu erhalten.

 

Literatur:
- Gemeindearchiv Reichelsheim
- Gemeindevorstand der Gemeinde Reichelsheim (Odenwald), 700 Jahre Reichelsheim im Odenwald - Vom Marktflecken zur Großgemeinde, ISBN 3-00-010145-4, 2002, S. 874 ff.
- Von den Anfängen der Industrialisierung zur Engineering Region - 150 Jahre IHK Darmstadt Rhein Main Neckar, 2012, Wissenschaftliche Buchgemeinschaft Darmstadt, ISBN 978-3-534-25504-7, S. 49 ff.

 

Verantwortlicher Autor:
[Färber, Dieter]