Trafo- und Spulenwickelei W. Gerhard
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs lagerte die Firma Gerätebau Urberach eine wichtige Teilefertigung nach Reichelsheim in den Saal des Gasthauses „Zur Eisenbahn“ aus. In diesem Zweigbetrieb von Telefonbau und Normalzeit entstanden Spezialspulen für die Luftwaffe. Betriebsingenieur und Fertigungsleiter war Walter Gerhard (* 05.12.1909, † 29.06.1982 Reichelsheim). Nach Kriegsende löste das Stammwerk diesen Betriebsteil auf. Einen Teil der verbliebenen Maschinen, Werkzeuge und sonstigen Vorrichtungen kaufte Walter Gerhard auf und gründete damit im Juli 1945 seine eigene Firma „Ing. W. Gerhard, Trafo- und Spulenwickelei, Reichelsheim“. Noch wichtiger als die verbliebenen Einrichtungen waren der jungen Firma die gut ausgebildeten Frauen als Wicklerinnen, die teilweise übernommen werden konnten.

Ecke der Firma Sägewerk und
Gewehrschaftfabrikation Volk
Foto: RRO-FAR-3-03-029 RE
Von der Gewehrschaftfabrikation Valentin Volk wurde im Flutgraben ein leerstehendes Nebengebäude für den Betrieb gemietet. Anfangs waren ungefähr 15 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beschäftigt. Der Betrieb befasste sich hauptsächlich mit der Reparatur von Transformatoren für Radiogeräte (defekt durch Wasserschäden). Kunden waren die Groß- und Einzelhändler für Elektro- und Rundfunkgeräte im südhessischen Raum. Hinzu kam noch die Reparatur beziehungsweise Neuwicklung von Relaisspulen verschiedener Arten für die Fernmeldezeugämter und Fernmeldeämter (Wiederaufbau der defekten Fernmeldeeinrichtungen nach dem Zweiten Weltkrieg).
Nachdem weitere Beschäftigte dazukamen, musste ein weiterer Raum in der Heidelberger Straße 22 gemietet werden. Dort waren nun das Prüffeld, Kontrolle, Lager und Büro untergebracht. Im Herbst 1947 wurde der Betrieb mit seinen mittlerweile 40 bis 50 Mitarbeitern in den Saal der Gaststätte „Zum Adler“ (Bismarckstraße 26) verlagert. Zu diesem Zeitpunkt hat die Firma einen gebrauchten PKW „Opel-Kadett“ mit Anhänger angeschafft. Jetzt konnten die Kunden besser und schneller beliefert werden. Zudem hatte der Firmeninhaber Walter Gerhard eine bessere Möglichkeit, mit den Kunden über die Vergabe von Aufträgen und anstehenden Reklamationen zu verhandeln.
Die Währungsreform im Juni/Juli 1948 hat die Firma verhältnismäßig gut überstanden. Der Vorteil war, dass einige Kunden, die Fernmeldezeug- und Fernmeldeämter, die in den Bereich der Bundespost gehörten, die Aufträge für die neue DM-Währung sehr schnell wieder eingegangen sind und die Arbeit konnte voll aufgenommen werden.
Es zeigte sich, dass die vorhandenen Räumlichkeiten erneut zu klein und zu eng waren. So fand die Firma Mitte des Jahres 1950 ihren neuen Sitz im Saal der Gaststätte „Zum Grünen Baum“ von Philipp Volk IV. am heutigen Rathausplatz 4. Während dieser Zeit wurde als neues Produkt die Fertigung von Groß-Transformatoren nach Kundenangaben für den Kraftwerksbau und die Steuerung von Walzstraßen in Metall-Walzwerken ins Programm aufgenommen. Auftraggeber und Abnehmer dieser Transformatoren war die Firma BBC-AG in Mannheim.

auf dem Steinbickel, 1970
Foto: Archiv RRO
Anfang 1951 entschloss sich die Firmenleitung für die Lieferung der Waren einen Opel-LKW (2,5 to) anzuschaffen. Gleichzeitig konnte ein Teil des Geländes der ehemaligen Ziegelei „auf dem Steinbuckel“ am Alten Weg 15-21 von Philipp Dingeldein erworben und sowohl Verwaltung als auch Fertigung ab 1952 dorthin verlagert werden. Während zunächst ein Baracken-Gebäude als Unterkunft diente, wurden nach und nach weitere Firmengebäude errichtet.
Gleich nach dem Einzug 1952 begann die Entwicklung und Herstellung von Ablenkeinheiten und Zeilentrafos für Schwarzweiß-Fernsehgeräte. Anfang 1962 wurde die Firma in die Kommanditgesellschaft „Ing. W. Gerhard KG Trafo- und Spulenwickelei und Apparatebau“ umgewandelt. Die nächste größere Aufgabe, die sich das Unternehmen stellte, war die Entwicklung und Fertigung von Ablenkmitteln für das Farbfernsehen. Die Ablenkeinheiten, Zeilentrafos und Spulen mussten vollkommen neu entwickelt werden, was mit gewissen Anlaufschwierigkeiten verbunden war. Das Unternehmen beschäftigte nun ungefähr 300 bis 320 Mitarbeiter; neue Fertigungsgebäude kamen hinzu.

Klein-Gumpen, in der Mühlstraße 1
Foto: Archiv RRO-3-03-029 KG
In den Jahren 1962/1963 wurde in Klein-Gumpen ein Grundstück erworben und Fertigungshallen von insgesamt ungefähr 2.300 m² errichtet. In ihnen fand unter dem Namen „M. Gerhard, Gerätebau-GmbH, Klein-Gumpen“ die Produktion von Monitoren und Vidikon-Ablenkeinheiten für „Industrie-Fernsehen“, Prüfanlagen und Überwachungsanlagen statt.
In den Monaten Mai bis September 1970 wurden mit der Firma Philips GmbH, Hamburg und Eindhoven (Holland) Verhandlungen über den Verkauf beider Firmen mit zuletzt 400 bis 450 Mitarbeitern geführt. Nachdem Philips ein annehmbares Angebot vorgelegt hatte, fand der Verkauf zum 30. September 1970 statt.
In den Firmengebäuden von Reichelsheim und Klein-Gumpen haben heute andere Firmen ihre Niederlassung gefunden.
Hinweis:
Der Bericht entstand aus einem Interview des Autors mit dem ehemaligen Leiter der Firmenverwaltung, Ludwig Dingeldein
Verantwortlicher Autor:
[Kalberlah, Wolfgang A. W.]