Ehemaliges Gasthaus „Zum Grünen Baum“
An der ehemaligen Kirchstraße, dem heutigen Rathausplatz 4 liegt zwischen dem evangelischen Gemeindehaus (früher Schulhaus, Bäckergasse 16) und dem Pfarrhaus II (früher Kaplanei, Kirchstraße 18) ein ehemaliges Bauerngehöft (Kirchstraße 17), dessen ältester ungefähr 450 Jahre alter Teil die südliche Ecke des Areals einnimmt. Für das Jahr 1825 ist der Gastwirt Johannes Schimpf (* 26.10.1807 Reichelsheim, † 12.01.1869 Reichelsheim) als Besitzer registriert, was auf die zusätzliche Nutzung des Hauses als Wirtschaft hinweist. Die Familien Trautmann (Faldersch, „Zur Traube“, Darmstädter Straße 7) und Schimpf sind über einen gemeinsamen Vorfahren namens Johann Weber miteinander verwandt und lebten daher zunächst auch auf dem selben Grundstück an der Bäcker- bzw. Kirchstraße. Folgende Einzelgebäude existierten in der Kirchstraße 17: Wohnhaus mit Backofen (500 fl.), Scheuer, Stall und Schoppen (200 fl.) sowie Schweineställe (20 fl.). Als nächster Besitzer wird 1863 Friedrich Schimpf (* 15.04.1836 Reichelsheim, † 10.10.1911 Büdingen/Oberh.) genannt.
1874 ist der Reichelsheimer Ackersmann, Wirt und Krämer Johann Peter Dingeldein (* 11.06.1849 Unter-Ostern (Keilvelter Hof), † 06.03.1927 Reichelsheim) registriert. Er heiratete am 20.06.1872 in Reichelsheim Katharine Wendel (* 28.02.1849 Reichelsheim, † 19.10.1928 Reichelsheim). Sie betrieben Landwirtschaft, die Gastwirtschaft mit Tanzsaal, eine Schnapsbrennerei, Salzhandel im ganzen Odenwald (Das Salz wurde am Neckar abgebaut) und einen Spezereiwarenladen (Kolonialwarenladen). Der Laden, der über eine Treppe an der nördlichen Ecke des Hauses zwischen Kirchstraße und Bäckergasse aus betreten werden konnte und zur Kirchstraße hin ein Ladenfenster hatte, wurde überwiegend von der Frau (genannt Hönige Kathrin) geführt. Dort konnte man Dinge wie Heringe, Petroleum, Salz, Zucker, Wachs und ähnliches erstehen.

(heute Rathausplatz) aus gesehen,
um 1945. Links der Eingang zum
ehemaligen Laden und in der Mitte
zur Gaststätte. Im Anbau oben rechts
die Fenster des Saals.
Foto: Archiv Wolfgang A. W. Kalberlah
Der Sohn der Eheleute, Land- und Gastwirt Adam Dingeldein VI. (* 09.12.1872 Reichelsheim, † 04.02.1938 Darmstadt), wird im Jahr 1900 nach dem Brandkataster über die Gebäude der Gemeinde Reichelsheim als Wirt genannt. Dabei sind zugleich ein zweistöckiges Wohnhaus mit Bäckerofen, Ställe, Schoppen sowie ein Tanzsaal mit Wohnung und ein Brennhaus eingetragen. Der Brandversicherungswert der Gebäude wurde damals mit 17.610 Mk. taxiert. Adam Dingeldein VI. betrieb die Wirtschaft unter dem Namen „Zum Grünen Baum“. Der Eingang zur Wirtschaft lag zur Kirchstraße hin zwischen der Treppe zum Laden und dem Anbau an der Südseite, also ungefähr in der Mitte des Anwesens. Der Tanzsaal befand sich im ersten Obergeschoss des Anbaus und hatte eine kleine Bühne. An ihn schloss sich nach Norden hin, also in das Haupthaus, ein Wirtsraum an, der ebenso wie der Saal nur bei Tanzveranstaltungen und größeren Festen genutzt wurde. Die eigentliche Wirtschaft befand sich genau unter dem Wirtsraum im Erdgeschoss, also links vom Eingang und rechts vom Laden.1905 ist Adam Dingeldein VI. im Gewerbetagebuch zusätzlich als Salzkrämer ausgewiesen. Aus dem Jahr 1909 ist zu erfahren, dass er sein Gewerbe als Obsthändler, Spezerei und Spielkartenkrämer niederlegte. Vermutlich wurde in dieser Zeit auch der Laden geschlossen. Die Treppe blieb jedoch noch bis in die 1960er-Jahre erhalten und diente zeitweise als zweiter Zugang zur Wirtschaft. Diese betrieb er noch bis 1919, dann zog er in die heutige Bismarckstraße 26 und führte das Gasthaus „Zum Adler“.
Mit Datum vom 11. April 1919 übernahm der im Laudenauer Weg (Laudenauer Straße 4, abgerissen zur Erweiterung der damaligen Kurklinik Göttmann) wohnende Maurermeister Friedrich Volk VII. (* 24.12.1886 Reichelsheim, † 15.03.1945 Reichelsheim) die ungefähr 1.200 m² große „Hofreite mit Grabgarten“ (also das heutige Anwesen Rathausplatz 4) und betrieb sowohl sein Maurergeschäft als auch die Wirtschaft „Zum Grünen Baum“. Die Schankerlaubnis hierfür wurde ihm mit Schreiben vom 11. März 1919 erteilt und am 16. April 1923 auch die Erlaubnis zum Ausschank von Branntwein. Nach ihm trägt der Besitz auch den Hausnamen „Frieds“.

die beiden Fenster des Ladens
um 1946. Die drei Fenster
rechts gehörten zur Gast-
wirtschaft.
Foto: RRO-FAR-3-03-014 RE
Am Wochenende trafen sich in der Gaststube oftmals die Skatspieler. Für Kinder und Erwachsene stand auf dem Tresen ein „Stechautomat“. Auf der Vorderseite hatte er viele kleine Löcher, die von hinten mit Papier zugeklebt waren. Mit einer „Stechnadel“ (einem spitzen Gegenstand an einem Holzgriff) stach man in die Löcher hinein und warf dabei eine Kugel aus dem Inneren des Automaten nach außen. Je nach dem welche Farbe die Kugel hatte, erhielt man einen Preis (maximal eine Tafel Schokolade) oder auch keinen.
Über Jahre hinweg diente der Saal des „Grünen Baums“ als Schulsaal für die Volksschule und die Reichelsheimer Handwerkerschule (Zeichenschule).
Im „Grünen Baum“ richtete 1946 das „Central-Laboratorium Reichelsheim Dr. A. Schwarz“ seine pharmazeutische Produktion im ungenutzten Saal und angrenzenden Wirtsraum im Obergeschoss ein, um Mittel gegen Gallenkrankheiten und Bluteisenmangel herzustellen. Die gemieteten Räume dienten als Produktionsabteilung für die ersten Pillen und zugleich als Verwaltungsabteilung. Kurze Zeit später mietete man noch den zu einem Eckzimmer umfunktionierten früheren Laden als Büro an, das über die ehemalige Ladentür in der Hausecke erreichen konnte. 1950 verlegte die Firma ihren Sitz ins Rheinland und so konnte auch das Eckzimmer als Gaststube in die Wirtschaft integriert werden.
Sogleich danach, Mitte des Jahres 1950, fand die Firma „Ing. W. Gerhard, Trafo- und Spulenwickelei, Reichelsheim“ bis 1952 ihren Sitz im Saal der Gaststätte.
Danach blieb der Saal ungenutzt. Im Juni 1964 schloss Friedrichs Sohn Philipp Volk IV. (* 10.04.1914 Reichelsheim, † 11.03.1976 Reichelsheim) die Gaststätte endgültig, die zusammen mit der benachbarten Gaststätte „Zum Schwanen“ ein gern besuchtes Ziel war, besonders zu Kerbzeiten.
Heute befindet sich in dem Anwesen die Malschule Malkowskaja.
Verantwortlicher Autor:
[Kalberlah, Wolfgang]