Arzneimittelherstellung
Es war einmal... als Arzneimittel aus einem Tanzsaal kamen, Pappröhrchen auf dem Rathausspeicher lagerten und Rindergalle in der ehemaligen Ziegelei eingedickt wurde.

Alte Apotheke in der Bismarckstraße 48
Foto: Achiv RRO-FAR-3-07-004 RE
Die Apotheke Reichelsheims befand sich anfangs in dem ehemaligen Amtshaus in der oberen Bismarckstraße (Haus Nr. 48) gegenüber der heutigen Gemeindeverwaltung. Sie wurde am 1. Mai 1945 für fünf Jahre von dem aus Düsseldorf stammenden Apotheker und Chemiker Dr. Anton Schwarz gepachtet. Seine Erfahrungen in der industriellen Herstellung und dem Vertrieb von Arzneispezialitäten veranlassten ihn am 1. Mai des darauffolgenden Jahres zusätzlich das „Central-Laboratorium Reichelsheim Dr. A. Schwarz KG“ zusammen mit seinem Sohn Rolf zu gründen. 1948 firmierte das Unternehmen in „Dr. Schwarz KG Fabrikation chemischpharmazeutischer Präparate“ um.

„Zum Grünen Baum"
Foto: Archiv RRO-FAR-3-03-014 RE
Unweit der Apotheke, auf dem Marktplatz (Haus Nr. 4) war das Gasthaus „Zum Grünen Baum“ zu finden. Es hatte im Erdgeschoss den Schankraum sowie ein Eckzimmer als Nebenzimmer und im ersten Stock einen Tanzsaal. Der Saal war damals ungenutzt und so verlegte das Central-Laboratorium seinen Firmensitz dorthin, um Mittel gegen Gallenkrankheiten (CHOLA SANOL) und Bluteisenmangel (FERRO SANOL) herzustellen. Der gemietete Raum diente als Produktionsabteilung für die ersten Pillen und zugleich als Verwaltungsabteilung. Auf der einen Seite saßen fünf bis sieben Abfüllerinnen, welche die Pillenmasse anteigten, aus dem „Fleischwolf“ dünne Stränge herausdrehten, rollierten und verpackten. In der anderen Hälfte arbeiteten Vater und Sohn Schwarz, 1946 kam der zweite Sohn (Dr. Kurt Schwarz) aus der Kriegsgefangenschaft hinzu. Kurze Zeit später mietete man noch das erwähnte Eckzimmer als Büro an.

der Bismarckstraße 15
Foto: Archiv RRO-FAR-3-03-015 RE
Für Labor und weitere Produktionsplätze (Tablettenpressen und Dragierkessel) nutzte die junge Firma zusätzlich ein heute abgerissenes Gebäude im Hof des Anwesens Bismarckstraße 15. Um 1947 produzierte sie zudem aus Schokoladenbestandteilen für Lebensmittelgeschäfte und Kioske mit einer Tablettenpresse Schokoladentaler sowie die handgerollten Pfefferminz-Bonbons „Fifi“. Der Hauptbestandteil von CHOLA SANOL war echte Ochsengalle, die vom Schlachthof in Darmstadt in 20-Liter-Kannen mit der Reinheim-Reichelsheimer Eisenbahn, dem „Odenwälder Lieschen", herbeigeschafft wurde. Da sie in der angelieferten Form zu dünnflüssig war, musste sie eingedickt werden. Diese bestialisch stinkende Angelegenheit zwang die Firma hierfür eine Örtlichkeit außerhalb der Ortsmitte zu suchen. Man fand sie in der stillgelegten Ziegelei Dingeldein am Alten Weg. Ein angemieteter Raum und die benachbarte Trafostation ermöglichten den Betrieb eines so genannten Elektrohockers, auf dem in einem Wasserbad die Galle auf den neunten Teil ihrer ursprünglichen Menge eingekocht wurde. Die Geräte mussten rechtzeitig abgeschaltet werden, um zu verhindern, dass die Galle zu einer steinharten Masse eindickte, die wie ein grüner Edelstein aussah.
In dieser Aufbauphase der Firma ergatterte Rolf Schwarz in Norddeutschland zu einem günstigen Preis Röhrchen aus Pappe als Verpackungsmaterial für die Tabletten. Ein ganzer Viehwaggon davon kam am Reichelsheimer Bahnhof an. Pferd und Wagen brachten sie zum Marktplatz, um aus Platzmangel in der Firma auf dem Dachboden des historischen Zent- und Rathauses (heute Rathausplatz 7, Regionalmuseum Reichelsheim Odenwald) gelagert zu werden. Der Transport dorthinauf erfolgte sackweise mit Hilfe des heute noch im Regionalmuseum zu besichtigenden Feuerwehr-Schlauchaufzugs. Nachdem der Pachtvertrag in der Reinshagenschen Apotheke zum 30. April 1950 ausgelaufen war und die Firma ihren Sitz nach Monheim am Rhein bei Düsseldorf verlegt hatte, blieben noch so viele Pappröhrchen übrig, dass sie der im Rathaus untergebrachten Schule zum Heizen der Säle dienten.
Die Firma ist heute in Monheim in einem international tätigen Unternehmen aufgegangen.
Literatur:
Herzschläge - 50 Jahre Schwarz Pharma - 1946-1996
Schwarz Pharma - Geschäftsbericht 2001
Verantwortlicher Autor:
[Kalberlah, Wolfgang]