Lexikon Reichelsheim (Odenwald)

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  Ehemaliges Gasthaus und Tanzlokal „Zur Eisenbahn“

Das Gebäude auf dem Anwesen der heutigen Darmstädter Straße 21 wird im Brandkataster von 1858 bis 1902 als ein einstöckiges Wohnhaus mit Mansarde, Bäckerofen, Stallung und Tanzsaal inklusive gewölbtem Keller und einem gesamten Brandversicherungswert von 19.190 Mark genannt. Laut Grundbuch war sein Besitzer vor 1887 Philipp Dingeldein VI. (* 31.03.1849, Fronhofen, † 18.04.1886, Reichelsheim). Er wurde bereits seit 1878 als Küfer (Kübler) zu Reichelsheim geführt. Nach seinem frühen Tod ist seine Witwe Anna Margaretha, geb. Hönig (* 2. 6.1853, Pfaffen-Beerfurth, † 10.11.1933, Reichelsheim) mit dem Gewerbe „Wein-, Obstwein-, Bier- und Brantweinzäpfer, Küfer und Kübler“ eingetragen. Zum 6. Mai 1887 legte sie den Küfer und Kübler nieder und betrieb dann nur noch die Bäckerei. Am 2. Juni 1887 ging sie eine zweite Ehe mit dem Bäcker und Gastwirt Johann Michael Trautmann IV. (* 17.05.1860, Groß-Gumpen, † 24.02.1942, Reichelsheim) ein.

Eisenbahn k1

Das Haupthaus mit der Gaststätte im
1. Stock und dem seitlichen Eingang.
Der Saal schloss sich nach hinten im
Anbau an. Die Backstube befand sich
vorn
unter der Gaststätte.
Aufnahme um 1910

Foto: RRO-FAR-3-06-009 RE

Beide wurden im Grundbuch als Besitzer des Anwesens eingetragen. Zum 6. August 1890 wird im Gewerbetagebuch der „Gastwirt“ in „Schildwirth zum Beherbergen berechtigt“ geändert. Die Gastwirtschaft und der Tanzsaal erhielten in Anlehnung und der räumlichen Nähe zur 1887 eröffneten Reinheim-Reichelsheimer Eisenbahn den Namen „Zur Eisenbahn“. Ab 1. Januar 1892 meldete Trautmann noch „Barbier und Makler mit Obst- und Kleesaamen, Landesprodukte“ an und ab 1. Februar 1892 „Steinkohlen- und Braunkohlenhändler im Kleinen ohne Niederlage“.

 Eisenbahn k2
Das Nebengebäude mit dem
Laden der Bäckerei
am 01.06.1910;
von links: Marie Dingeldein,
Katharina Seeger mit Vater
Michael Trautmann, Lehrbub
Heinrich Arras
Foto: RRO-FAR-1-12-041 RE

Am 1. September 1928 gab er alle Gewerbe auf. Die gemeinsame Tochter Katharina Trautmann (* 04.03.1888, Reichelsheim, † 16.11.1974, Reichelsheim) heiratete Georg Seeger (* 13.09.1896, Herchenrode, † 15.10.1975, Reichelsheim), der Nachfolger in dem Anwesen wurde.

Der Saal des Gasthauses „Zur Eisenbahn“ bildete über lange Jahre das Domizil der Turner. Da es in Reichelsheim keine Turnhalle gab, war es üblich im Winter Säle von Wirtschaften aufzusuchen. Im Sommer hingegen ging man ins Freie. Dazu wurde die Saison meist am Himmelfahrtstag mit einem Anturnen eröffnet und im Herbst mit einem Abturnen beendet. Zeitweise war auch die Reichelsheimer Handwerkerschule (Zeichenschule) hier untergebracht. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs verlagerte die Firma Gerätebau Urberach eine wichtige Teilefertigung in den Saal des Gasthauses „Zur Eisenbahn“. In diesem Zweigebetrieb von Telefonbau und Normalzeit entstanden Spezialspulen für die Luftwaffe. Aus einem Teil der Maschinen entstand nach dem Krieg die Firma „Ing. W. Gerhard, Trafo- und Spulenwickelei Reichelsheim“.

Der Sohn von Georg Seeger, Georg Jakob Michael Seeger (* 01.09.1921, Reichelsheim, † 12.05.2010, Reichelsheim), führte die „Eisenbahn“ weiter. Er war gleichzeitig Bäcker. Die Backstube befand sich im Erdgeschoss und der Verkauf erfolgte im Obergeschoss.

Eisenbahn k3
Das Tanzlokal „Zur Eisenbahn” (beide
Fachwerkhäuser rechts) mit den Turnern
beim Festzug des Gesangvereins 1926
Foto: RRO-FAR-6-01-008 RE

Die „Eisenbahn“ war bis zum Ende des 20. Jahrhunderts ein weit über die Grenzen Reichelsheims hinaus bekanntes und beliebtes Tanzlokal für Jung und Alt. Hier spielten bekannte Musikgruppen und es traten bekannte Künstler auf. Darüber hinaus diente der Saal auch als Kegelbahn, die später in einen Anbau verlegt wurde. Die Räume der Gaststätte sind heute zu einer Spielhalle umfunktioniert und die Bäckerei wurde eingestellt.

 

 

 

 

 

Verantwortlicher Autor:
[Kalberlah, Wolfgang A. W.]